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Harninkontinenz – eine oft verschwiegene Sturzursache

Lassen Sie sich kurz in den Alltag eines Geriaters (Arzt für Altersmedizin) entführen. Seine „neue Patientin“, die sich am Vormittag auf der Station eingefunden hat, zog sich eine Schenkelhalsfraktur bei einem Sturz zu. Beim Aufnahmegespräch erfragt der Arzt den Sturzhergang detektivisch genau. Es interessieren ihn der Zeitpunkt, die Umstände, ob eine Bewusstlosigkeit aufgetreten ist und ob das Sturzereignis von anderen Personen beobachtet wurde. Und so erzählt die neue Patientin, dass sie, wie so oft, in der Nacht gegen 3 Uhr plötzlich einen sehr starken Harndrang verspürt habe. Also sei sie zur Toilette geeilt, die sich im Erdgeschoss befände, während ihr Schlafzimmer in der ersten Etage liege. In jener Nacht sei sie am ersten Treppenabsatz gestolpert und mit starken Schmerzen in der rechten Hüfte liegen geblieben. Mit einem Rettungswagen sei sie dann in eine orthopädische Klinik transportiert worden. Bei all der Aufregung habe die Patientin erst beim Umlagern bemerkt, dass ihre Schlafhose feucht war. Offensichtlich konnte sie den starken Harndrang nicht mehr kontrollieren ... Der Geriater hatte einen Anhaltspunkt für die Sturzursache: Harninkontinenz. Er veranlasst während des stationären Aufenthaltes eine weitere Abklärung.

Harninkontinenz – ein häufiges Problem

Eine Harninkontinenz, also der unkontrollierte Urinabgang an ungewolltem Ort oder zu ungewollter Zeit, tritt mit zunehmendem Lebensalter immer häufiger auf. Bei den über 70-jährigen zu Hause lebenden Menschen sind es etwa 30 %, bei Pflegeheimbewohnern 50-60 %. Während in jüngerem Alter vor allem Frauen an Harninkontinenz leiden, verschiebt sich dies mit zunehmendem Alter zuungunsten der Männer. Eine Harninkontinenz stellt für viele Betroffene eine erhebliche Belastung dar. Sie vermeiden es aus Angst oder Scham auszugehen und ziehen sich zurück. Angehörige sind durch die Geruchsbelästigung angewidert und mit zusätzlicher Arbeit belastet. So wird die Harninkontinenz nicht selten zum entscheidenden Anlass für den Umzug ins Pflegeheim.

Schamvolles Schweigen verzögert Behandlung

Leider denken viele Menschen fälschlicherweise, dass eine Harninkontinenz zum Altern gehört. Es wird sowohl von den Betroffenen als auch von den Hausärzten tabuisiert. In einer sechsmonatigen Studie in unserer Klinik gaben 63 % der Patienten mit einer Harninkontinenz an, dass sie bisher noch nie mit einem Arzt darüber gesprochen haben, obwohl die Beschwerden zu diesem Zeitpunkt bereits durchschnittlich 3,7 Jahre bestanden. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten die verschiedenen Formen, Ursachen und Risikofaktoren der Harninkontinenz abzuklären. Nach Optimierung der Risikofaktoren und Einsatz von Medikamenten oder anderen Verfahren lässt sich die Harninkontinenz in drei von vier Fällen deutlich verbessern oder heilen.

Risikofaktor für Stürze

Ein möglicher Zusammenhang zwischen Harninkontinenz und Mobilität ergibt sich aus dem oben geschilderten Beispiel. Der Harndrang mit Inkontinenz führte hier infolge der Schenkelhalsfraktur zu einer Beeinträchtigung der Gehfähigkeit. Es kann aber auch umgekehrt eine herabgesetzte Gehfähigkeit zur Harninkontinenz führen: wenn die Gehgeschwindigkeit nicht mehr ausreicht, um nach einem unaufschiebbaren Harndranggefühl die Toilette zu erreichen; dann ist ein Inkontinenzereignis vorprogrammiert. Wissenschaftliche Arbeiten fanden heraus, dass bei Vorliegen einer Harninkontinenz das Risiko zu stürzen um den Faktor 3 und das Risiko sich dabei einen Knochenbruch zuzuziehen um den Faktor 1,34 erhöht ist. Bei neurologischen Erkrankungen, wie z. B. einem Schlaganfall, einer Demenz oder einem M. Parkinson können verschiedene Funktionen, die für einen erfolgreichen Toilettengang erforderlich sind, krankhaft verändert sein: die Gehgeschwindigkeit und -sicherheit wie auch die Handgeschicklichkeit (wichtig für das Entkleiden auf der Toilette) und die Steuerung der Blasenentleerung und -speicherung. Bei Schlaganfällen tritt eine Harninkontinenz beispielsweise in 40 % der Fälle bereits in den ersten 3 Monaten auf.

Behandlung ist möglich

Zurückblickend hätte die Patientin im oben genannten Fall möglicherweise vor einem Schenkelhalsbruch verschont bleiben können, wenn die Harndrangsymptomatik medizinisch abgeklärt und behandelt worden wäre. Denn die vom Geriater veranlasste Abklärung ergab, dass sie schon seit über einem Jahr an einer zunehmenden Dranginkontinenz litt. Sie versuchte, das Problem mit Vorlagen in den Griff zu bekommen.

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